Krieg kreiert Monster. Er hinterlässt Trauer und zertrümmerte Städte. Seine blutigen Hände krallen sich alles was sie ertasten können, zerdrücken es, zermürben es, egal wo. Seine Wunden überdauern Generationen, häufig bleiben sie im Verborgenen.
F.P.
Ein Gymnasiallehrer verunfallt tödlich, ein Gestapo Spion macht dubiose Geschäfte und die Burschewskis verlassen Berlin um an einen Ort zu kommen wo es keine Bomben regnet.
Und wie sieht es heute aus mit den Flüchtenden aus der Ukraine?
Mein Urgrossvater Theodor Pestalozzi. Ein quirliger, fröhlicher und sehr beliebter Gymnasiallehrer. Er fuhr gerne freihändig mit dem Fahrrad ans Gymnasium und dozierte über seine Leidenschaft: Geschichte. Sein Motto als Lehrer:
Schule ohne Angst, Schule ohne Noten, eine Schule mit Freude, Begeisterung und keine Jahreszahlen auswendig lernen.
Verheiratet mit Verena zog er drei Kinder gross. Darunter David Pestalozzi, meinen Grossvater. Alles war gut. Am 22. März 1936 will Theodor als Beifahrer das Versamer Tobel durchqueren.
Autounfälle sind keine Seltenheit. Doch bei diesem haben sich schnell einige Ungereimtheiten finden lassen. Erst kürzlich hatte Theodor eine Lebensversicherung abgeschlossen. Die Versicherungssumme betrug: 100'000.-
1934, zwei Jahre vor dem Autounfall verfasste Theodor Pestalozzi, mit 32 Jahren, ein neues ausführliches Testament. Es sollte bei einem verfrühten Ableben seinerseits folgendes beinhalten.
Vererbt würde sein ganzer wissenschaftliche Nachlass und die kunstgeschichtliche Sammlung an den Herrn Richard Grossmann den er in seinem Testament als "seinen lieben Freund betitelt".
Grossmann - Sehr charismatisch und gebildet.
Pfarrer, Pilot, Seelsorger und Casanova.
Anfangs der 30er Jahre kam Grossmann aus Deutschland in die Schweiz. Schnell bildete sich eine Freundschaft mit Theodor und Verena Pestalozzi.
Nach dem tödlichen Autounfall im Versamer Tobel heiratete Grossmann die nun verwitwete Verena und zog an Theodors Stelle ins Haus ein. Die sechsstellige Versicherungssumme wurde an Verena Pestalozzi ausbezahlt.
Warum würde Theodor einem Mann ausserhalb der Familie einen Teil von seinem Erbe vermachen? Warum schreibt er als 32 jähriger ein neues sechs seitiges Testament?
Fragen über Fragen.
Verena Pestalozzi lebte fortan mit Grossmann zusammen in Saas (GR). Wie sie das taten, darüber wurde sogar im Scheinwerfer berichtet - einer Zeitung aus Zürich. Eine Mauer, Stacheldraht und Autos mit deutschen Kennzeichen die oft vorfahren. Hier ein Ausschnitt aus einem Bericht vom 13. Dezember 1938.
Dies war nur der Anfang von Grossmanns kuriosem Werdegang. Mit dem Beginn des zweiten Weltkrieges 1939 begann Grossmann für den SD (Sicherheitsdienst der SS) zu arbeiten. Zusammen mit der Kriminalpolizei und der Gestapo gehörte der SD zum Reichssicherheitshauptamt RSHA. Zu seinen Tätigkeiten gehörte die Überwachung der Bevölkerung und politischen Funktionären in der Schweiz.
Grossmann pflegte auch Kontakt mit diversen hochrangigen SS-Leuten wie Wilhelm Gustloff in Davos oder mit Otto Bovensiepen, mit dem er gerne in Kopenhagen in seinem Büro über das "Seelenheil" philosophierte.
Ob der Autounfall von Theodor ein Unfall war oder ein von Grossmann orchestriertes Verbrechen, konnte nie abschliessend beantwortet werden.
Irma Burschewski, meine Grossmutter mütterlicherseits. Ihre Geschichte ist nicht verlinkt mit der von Grossmann oder dem Autounfall. Doch auch sie hat ihren Anfang in den 30er Jahren.
Sie wurde 1935 in Deutschland geboren. 1943 wurde Berlin zur Kriegsstadt erklärt, Mütter und Kinder mussten die Stadt verlassen. Die Wohnung der Burschewskis lag in Trümmern und die Familie durfte nicht mehr in den Luftschutzkeller. So begann eine einjährige Zeit der Flucht. Bei Freunden und Verwandten in Süddeutschland konnten sie zeitweise bleiben, bis sie auf ihrer beschwerlichen Reise ins Elsass kamen. Hier zogen die Franzosen mit Panzern am Haus vorbei. Die Kinder warfen ihnen Blumen zu.
Vom Elsass gelangte die Familie über Basel in die Schweiz. Zuerst kamen sie in verschiedenen Flüchtlingslager unter, bis ihnen schlussendlich eine Wohnung im Fischenthal (ZH) zugewiesen wurde.
1943 - Irma ist 8 Jahre alt als sie die Flucht antraten. Süddeutschland - Elsass - Schweiz. Über ein Jahr waren sie unterwegs.
Krieg hat meine Vorfahren geprägt. Eine Fluchtgeschichte mütterlicherseits und ein eingeheirateter SS Spion väterlicherseits. Viele Zufälle führten dazu, dass ich heute diese Zeilen in Bern niederschreibe. Doch wie viele Geschichten wie diese gibt es? Wie viele wurden gestern und wie viele werden heute und morgen neu geschrieben? Wie viele Bücher könnte man füllen seit Russland 2022 in die Ukraine einfiel?
Russland beginnt den Angriffskrieg gegen die Ukraine. Millionen von Menschen verlassen das Land.
Bisher flohen 6.3 Mio. Ukrainer:innen (Stand 19.06.23). Mehrheitlich Mütter und Kinder.
Die Schweiz hat 65'601 Ukrainer:innen aufgenommen. (Stand 05.05.23)
Weltweit gelten 108.4 Mio. Menschen als "forcibly displaced", mussten also ihre Heimat verlassen.(Stand 14.06.23)
Für viele bedeutete die Flucht nicht nur eine körperliche Tortur. Dass viele Flüchtende genauso von psychischen Narben gezeichnet sind zeigt eine Studie vom Bundesamt für Gesundheit, 2018. 40 bis 50 Prozent der Geflüchteten haben mit traumatischen Erfahrungen zu kämpfen. Die Folge: Über 30 Prozent leiden unter einer posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) und über 30% kämpfen mit Depressionen. Diese Traumafolgeerkrankungen erschweren nicht nur das private Leben und die Gesundheit der Betroffenen. Sie erschweren auch die soziale Integration.
Ich spreche fast nie mit anderen Menschen, weder über meine schrecklichen Erlebnisse noch über Alltäglichkeiten. Am liebsten würde ich einfach alles vergessen, was geschah – aber es gelingt mir einfach nicht.
Ich bin ständig innerlich rastlos und nervös. TrotzTabletten kann ich kaum schlafen. Ich zittere im Bett, habe Kopfschmerzen und warte mit grosser Ungeduld darauf, dass es hell wird, damit ich aufstehen kann.
Ich habe mich gehasst für diese gesundheitlichen Probleme und sagte mir: Warum habe ich Kopf- und Rückenschmerzen, warum diese Nervosität, jetzt, wo wir in Sicherheit sind? Warum ausgerechnet jetzt?
Meine Tochter konnte in der Nacht plötzlich nicht mehr schlafen. Sie fürchtete sich vor der Dunkelheit und musste häufig weinen. Auch beklagte sie sich über Bauchschmerzen und hatte keinen Appetit mehr. Ihre Leistungen in der Schule wurden immer schwächer.Was ist bloss mit ihr los, fragte ich mich?
Ich habe stark unter den schrecklichen Erlebnissen gelitten. Schliesslich habe ich eine Fachperson gesucht und mit ihr über meine Probleme, Beschwerden und Ängste gesprochen. Auch meine Familie unterstützt mich. Seither geht es mir viel besser und ich kann auch wieder lachen
Immer wieder sehe ich die schrecklichen Bilder von der Flucht vor meinem inneren Auge, vor allem in der Nacht. Alle Gefühle von damals sind dann plötzlich wieder da. Für mich ist das fast schwerer zu ertragen als die chronischen Rücken- und Kopfschmerzen, unter denen ich leide.
PDF, Erinnerungen und Nachrufe, erstellt von Dr. Wolfensberger, Dr. E. Sch., Dr. Fritz Enderlin, 1936
PDF, Ansprache, Lebenslauf und Abschiedsworte, erstellt von Hermann Kutter und Dr. Fritz Enderlin, 1936
PDF, 1. Testament 1927, 2. Testament 1934, erstellt von Theodor Pestalozzi
PDF, der vollständige Zeitungsbericht 1938
PDF, Lebenslauf von Richard Grossmann, erstellt von Peter Jehn, 2017 (Dokument wird nicht veröffentlicht)
PDF, Referat in Saas von Christian Hansemann, 2004
PDF, Kurzbiografie von Grossmann, veröffentlicht von der Stadt Pforzheim, verfasst von Peter Jehn 2018
PDF, Grossmanns Unterstützung des Dänischen Widerstands, erstellt von Peter Jehn, 2022 (Dokument wird nicht veröffentlicht)
PDF, Bericht von Carlo Pestalozzi über Grossmann und Theodor, Datum unbekannt (Dokument wird nicht veröffentlicht)
PDF, Lebenslauf von Irma Burschewski, erstellt von Menga Pestalozzi-Rossi und Gaby Oncins-Rossi, 2003
PDF, Lebenslauf von Irma Burschewski, erstellt von Monika Kunz-Rychener und Silvia Beyeler-Rychener, 2003
PDF, Lebenslauf von Marlene Burschewski, erstellt von Sabine Vignola, 2000
PDF, Daten von UNHCR, 2023
PDF, Bericht Traumafolgeerkrankungen, Schweizerisches Rotes Kreuz, 2020
PDF, Situationsanalyse psychische Gesundheit Asylsuchende, Studie erstellt vom Bundesamt für Gesundheit, 2018
PDF, Informationsbroschüre über Trauma, Traumafolgestörung, PTSD, erstellt vom Schweizerischen Roten Kreuz, 2016